Der kleine Prinz – Interpretation: Die Themen

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Gefahren durch ein falsches Fortschrittsbewusstsein

Der ehemalige tschechische Präsident und Nationalheld Václav Havel schrieb in seinem Theaterstück ›Die Benachrichtigung‹ (1965): »Wir bauen herrliche Verbindungen zwischen den Kontinenten […] doch wir sind nicht in der Lage, eine Verbindung von Mensch zu Mensch aufzubauen.« Viele Jahre zuvor macht Antoine de Saint-Exupéry die gleiche Beobachtung: Der Mensch entfernt sich durch die größere Beweglichkeit, durch Technisierung, Massenfertigung und Industrialisierung immer mehr von sich selbst.

So verteilt der Weichensteller die Reisenden in ihren Schnellzügen in 1000er-Paketen in alle Himmelsrichtungen. Sie rauschen durch die Welt, doch sie wissen nicht, was sie am Ziel ihrer Reise suchen und reisen unerfüllt und unglücklich in eine andere Richtung weiter. Sie sind wurzellos geworden, weil sie nicht mehr fragen, was sie zu Menschen macht, und versäumen es, ihre Welt zu betrachten. Leichtgläubig wiederholen sie – wie ein Echo, was andere vorbeten. So nehmen sie auch Tabletten ein, die den Durst unterdrücken, weil dies – wissenschaftlich nachgewiesen – Zeitersparnis verspricht. Doch nach dem Sinn davon fragen sie nicht. Dabei ist Wasser doch gerade die Quelle des Lebens. Und dann züchten sie 5000 Rosen und könnten doch beim Anblick einer einzigen glücklich werden. Die Natürlichkeit des Menschen geht so verloren und der Blick des Menschen für die Welt auch. Nur die Kinder und die wenigen Kind-Gebliebenen sind anders.

Es ist ein Irrglaube, der zu dieser Entwicklung führt: Fortschritt und Technik werden zum Allheilmittel, sie verheißen Glück, dabei sind sie nur ein Mittel zum Zweck.

Die verschüttete Kindheit

»Alle großen Leute waren einmal Kinder (aber nur wenige erinnern sich daran)«, heißt es bereits in der Widmung des Textes. Die Erwachsenen haben den Bezug zu ihrer Kindheit verloren. Und den Kindern bringen sie schon beizeiten bei, was ihre Bestimmung ist: Erwachsen zu werden. Und das heißt, sich »mit Geographie, Geschichte, Mathematik und Grammatik zu beschäftigen«. Sie sollen abstraktes Wissen aufnehmen, denn das kann für das Leben sehr nützlich sein. Phantasie braucht man dazu nicht.

Die Erwachsenen leben in einer oberflächlichen Welt aus Zahlen und Fakten. Sie beurteilen die Welt nach allzu äußerlichen Aspekten. Und Kinder sind von ihnen abhängig. Das ist auch das Dilemma des Piloten. Er hat auf den Rat der Erwachsenen gehört und seine Karriere als Maler nach nur zwei Bildern im Alter von 6 Jahren wieder aufgegeben. Doch er spürt, dass das falsch war. Er sucht nach Freunden, bei denen er sich vollständig fühlen kann. Und vollständig ist er, wenn er unter ihnen seiner Phantasie freien Lauf lassen kann, wenn sie ihn verstehen. Sein Leben aber ist bestimmt durch die Anpassung an die Erwachsenenwelt. Wahre Freundschaft findet er nicht.

Saint-Exupéry sieht die Kindheit nicht allein als Vorbereitung auf das Erwachsensein. In einem Kind ist für ihn der Geist (siehe oben) von Beginn an mächtig. Ein Kind lebt mit seiner Umgebung und es erweckt sie zum Leben. Kraft der Phantasie schafft es Bedeutung. Es ist in der Lage, eine Puppe zu etwas Einzigartigem zu machen, die Teil seines Lebens wird. Es macht das Schaf auf einer Zeichnung lebendig. Es sieht durch die Bretter einer Kiste hindurch, was sich darin verbirgt. Es staunt in einem Zug über die vorbeirauschende Landschaft. Es zeichnet einen von einer Schlange verschlungenen Elefanten. Ein Kind stellt die richtigen Fragen. Und es knüpft unentwegt Verbindungen zwischen sich und der Welt. Die Phantasie ist das Werkzeug und damit gestaltet es. Doch wehe, wenn man dem Kind dieser Kraft beraubt!

Der Pilot leidet darunter. Der kleine Prinz hilft ihm, die Fährte zu sich wieder aufzunehmen. Die Kraft der Kindheit ist in ihm nicht verloren gegangen, sie wurde nur verschüttet. Auch wenn seine Zeichenkünste wenig entwickelt sind, beginnt er nun wieder zu zeichnen. Der kleine Prinz lenkt ihn durch seine Fragen und dessen Geschichte hält der Pilot in seinen Bildern fest. Tag für Tag gewinnt er sein Urvertrauen wider bis er schließlich in der Wüste, so unwahrscheinlich das auch ist, einen Brunnen findet und ein neues Leben für ihn beginnt.

Gerade die Geschichte des Piloten macht den kleinen Prinzen für viele nach Sinn suchende Erwachsene zu einer willkommenen Lektüre. Der Text berührt sehr tief liegende Schichten unseres Bewusstseins und führt zur eigenen Kindheit zurück. Und schon das Lesen aktiviert diese verschüttete Kraft.

 

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