Inhaltsangabe
Rivière ist Chef der südamerikanischen Luftpostlinien der Aéropostale und koordiniert vom Flughafen in Buenos Aires aus seine Piloten. Er ist eine Instanz, der seine Piloten energisch, streng und pflichtbewusst zu lenken und zu formen weiß. Wegen des Konkurrenzdrucks, aber auch aus Pioniergeist, hat er vor kurzem Nachtflüge eingeführt. Für die Piloten ist die Nachtfliegerei eine große Gefahr, weil sie sich nur an den Sternen orientieren können. In Paraguay, Chile und Patagonien starten drei Flugzeuge mit Post, die von Buenos Aires aus nach Europa weitertransportiert werden soll. Zwei Flugzeuge treffen ein, doch die Maschine von Fabien aus Paraguay gerät in den Anden in einen Sturm. Über Funk halten sie Kontakt, bis auch dieser abbricht. Den Absturz des Flugzeuges können sie nur vermuten. Dass Fabien sterben wird, daran gibt es keinen Zweifel.
Die alles beherrschende Gestalt des Romans ist Direktor Rivière, der die Verantwortung für die Linien und für seine Männer trägt. Er hat einen großen Einfluss auf die Piloten. Abwechselnd erleben wir in der Geschichte den Direktor auf dem Flughafen und Fabien bei seinem unheilvollen Flug. Rivière erteilt Befehle, sinnt tief über seine Arbeit nach und fragt sich unter den Eindrücken der Ereignisse, ob er die Nachtflüge, die er nur gegen eine große politische Gegenwehr durchgesetzt hatte, nun noch fortsetzen kann oder nicht.
Saint-Exupéry verknüpft mit dem Thema der Nacht ein ethisches und philosophisches Thema: Was ist wichtiger, kreatives Handeln oder das individuelle Glück? Im Namen welcher Werte darf man das Glück Einzelner zum Opfer bringen? So fragt sich Rivière: „Obwohl das Menschenleben unbezahlbar ist, handeln wir immer wieder so, als ob es etwas gäbe, das das Menschenleben an Wert übertrifft … Aber was?“ So handelt er auch. Zunächst wird er von seinem Verantwortungsbewusstsein und seinem Pflichtgefühl geleitet. Die Idee des Nachtfluges verschafft seinen Linien einen entscheidenden Vorteil. Doch das Schicksal Fabiens lässt ihn zweifeln. Fabien bleibt in seinem Flugzeug ruhig und nahezu gelassen, er genießt den Sternenhimmel, als er für wenige Augenblicke die Unwetterfront durchbricht, und geht mit Würde seinem Schicksal entgegen. Die Nacht ist für ihn zu einem uferlosen Strom geworden, in dem er versinken wird. Seinen Mut und seine Willenstärke hat er Rivière zu verdanken, der seine Männer für den Weg der Erkenntnis geformt hat. Rivière rechtfertigt seinen Pioniergeist, er sagt: „Es gibt keine Lösungen im Leben. Es gibt Kräfte in Bewegung, die muss man schaffen, die Lösungen folgen nach.“ Als Fabiens Frau anruft und sich nach ihrem Mann erkundigt, rührt ihn das Schicksal, doch wittert er auch einen Widersacher: „… weder die Welt der Tat noch die Welt persönlichen Glücks können sich auf Teilung einlassen, sondern stehen im Widerstreit.“ In ihr wird Rivière das Glück gewahr, das seine Entscheidung ins Verderben stürzen wird. Dennoch nimmt er den Tod Fabiens in Kauf und schickt seinen Piloten nach Europa.
Antoine de Saint-Eupéry hatte über sein Buch selbst gesagt, es wäre eine „Erforschung der Nacht“. 1995 meint die Schriftstellerin Marguerite Duras: „Flug in meine Nacht hätte er schreiben sollen!“ Und tatsächlich dringt er in Nachtflug tief in seine eigene Nacht, in das finstere Herz des Unbekannten vor, das Kindheit, Tod, Erwartung, Stille, das Universium und das Göttliche umfasst. Die Nacht verbirgt das Geheimnis der Welt, ihrer Erschaffung und ihres Ziels. Mit tiefer Melancholie schreitet er unermüdlich durch sie hindurch und nimmt den Kampf mit den unsichtbaren Kräften an, damit er die Gipfel erstürmen kann und ein neuer Tag erwacht, so wie Fabien am Ende in eine „Milch aus Licht“ taucht und in ekstatische Freude ausbricht.
Hintergrund und Entstehung
Saint-Exupérys Roman Nachtflug handelt vom Beginn der Postluftfahrt in Südamerika. Wie in fast allen seinen Romanen trägt er starke autobiografische Züge. Im Oktober 1929 wurde er Betriebsdirektor der Fluggesellschaft Aéropostale Argentina in Buenos Aires und richtete Fluglinien für Postflüge in Südamerika ein. Hier war er auch verantwortlich für die ersten Nachtflüge. Sein Freund Guillaumet geriet im Juni 1930 beim Überflug über die Anden in einen Schneesturm und stürzte ab. Exupéry ließ unermüdlich nach ihm suchen und rettete schließlich seinen Freund. Im September 1930 lernte er Consueolo Suncin kennen. Ihre Ausstrahlung versetzte ihn so in Begeisterung, dass er sie mit dem Flugzeug entführte und einen Heiratsantrag machte. Consuelo brauchte Bedenkzeit, bevor sie in die Heirat einwilligte. Diese Zeit war, wie er selbst in einem Brief schrieb, die glücklichste seines Lebens. In diesem Jahr begann er auch mit der Arbeit am Nachtflug, der Ende des Jahres bei seinem französischen Verlag Gallimard erstmalig erschien.
Beim Schreiben war Consuelo seine Muse. Für sie ging er durch seine Nacht. Er schrieb in ihrer Gegenwart, er las ihr Passagen und ganze Kapitel vor. Teils entstand der Roman in Buenos Aires, teils in seiner Heimat Frankreich, wohin er Consuelo nachgereist war. In Paris setzten sie ihre unkonventionelle Zweisamkeit fort. Für Saint-Exupéry war es eine Zeit voller Euphorie, Lebensfreude und Tatendrang. Sein Ego war gewaltig angewachsen. Nach dem Erfolg mit Südkurier war er noch hunriger nach Anerkennung. Er wollte das ganze Leben in all seinen Facetten. Er wollte von allen geliebt werden, besonders von seiner Mutter, die er tyrannisierte und mit Vorwürfen über seine verlorene Kindheit überhäufte. Diese Widersprüche eines Charakters und seines von Selbstlosigkeit, Großmut und Kameradschaft geprägten Werkes werden in Nachtflug lebendig.
Consuelo überhäufte er mit Lesepassagen und sie förderte seine schriftstellerische Tätigkeit – auch mit unkonventionellen Mitteln, indem sie ihm Sex nur für Texte gewährte. In ihrem Haus in Nizza schrieb er die letzten Worte des Romans. Er reiste nur kurz nach Paris, um sein Manuskript dem Verlag zu übergeben, dann fuhr er nach Aguy, weil er Consuelo seiner Familie vorstellen wollte.
Für die Figur des Rivière nahm sich Exupéry den französischen Luftfahrtpionier Didier Daurat zum Vorbild, den er sehr verehrte. Der Direktor der Fluglinie in Toulouse war ein autoritärer Vorgesetzter. Er selbst sagte von sich: „Ich schmiede den Menschen.“ Er disziplinierte seine Männer zu Pflichtgefühl und Verantwortungsbewusstsein. Hinter der Strenge Daurats vermutet Saint-Ex eine verborgene Liebe für seine Piloten und zeigt das schöpferische Prinzip hinter der Disziplin auf.
Der Titel seines Buches stand bis zum Schluss nicht fest. Sowohl Consuelo als auch seine Mutter hatten ihm Vorschläge unterbreitet. Auf den letzten Seiten des für den Verlag vorgesehenen Manuskriptes hatte er handschriftlich Nuit Lourde (Bedrückende Nacht), den Vorschlag Consuelos, und Vol de nuit (Nachtflug) notiert. Letztlich entschied er sich für die Vieldeutigkeit des letzeren Titels und strich den ersten durch.
Der Roman wurde mit dem renommierten Prix femina ausgezeichnet und brachte Saint-Exupéry den Durchbruch als Autor.