Der kleine Prinz als Kunstmärchen – Merkmale der Erzählung

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Zwar ist »Der kleine Prinz« als ein Kinderbuch konzipiert, doch wendet sich Saint-Exupéry auch an die Erwachsenen. Dies wird bereits in der Widmung des Werkes deutlich, das er seinem besten Freund, einem Erwachsenen, zum Geschenk macht. Damit lehnt Saint-Exupéry auch eine eindeutige Zuordnung zu einem bestimmten Genre ab. Im 4. Kapitel rückt er seine Geschichte zumindest in die Nähe des Märchens. Hier gibt er zu, dass er seine Geschichte lieber so einfach wie ein Märchen gestaltet hätte mit einem formelhaften Einstieg: »Es war einmal ein kleiner Prinz …«, doch ist sie das eben nicht geworden. Eine Zuordnung als Volksmärchen weist er damit zwar zurück, doch hat »Der kleine Prinz« viele Merkmale des Kunstmärchens.

Allgemeine Merkmale eines Märchens

  • Märchen sind zumeist durch eine mündliche Tradition weitergegeben worden, ihre Autoren können nicht benannt werden.
  • Sie beginnen und enden zumeist formelhaft.
  • Ihre Sprache ist einfach.
  • Zeit und Ort ihrer Handlung sind zumeist unbestimmt oder nur vage benannt.
  • Ihre Handlung verläuft linear und einfach.
  • Handlungsorte sind trivial ohne symbolische Bedeutung.
  • Ihre Helden haben bestimmte Aufgaben zu lösen. Sie folgen dem Rhythmus von Aufbruch und Wiederkehr. Sie sind die einzigen Figuren, die eine Entwicklung vollziehen. Alle anderen Figuren sind in der Regel eindimensionale Typen.
  • Figuren sind einfach strukturiert und nicht psychologisiert.
  • Figuren sind in die Kategorien Gut und Böse eingeordnet.
  • Tiere besitzen die Fähigkeit, zu sprechen.
  • Die Geschichte endet mit einem Happy End unter dem Motto »Ende gut, alles gut.« Ihr Ende ist endlich.
  • Sie vermitteln ein einfaches Weltbild.
  • Sie folgen eine Natur- und Zahlensymbolik.

Besondere Merkmale von Kunstmärchen

Kunstmärchen unterscheiden sich in vielen dieser allgemeinen Merkmale:

  • Ihr Autor kann eindeutig benannt werden.
  • Es gibt keine formelhaften Anfänge und Enden. Ihre Sprache ist poetischer.
  • Ort und Zeit sind klar benannt.
  • Auch der Handlungsverlauf ist komplex.
  • Handlungsorte sind kennzeichnend und können symbolischen Charakter haben.
  • Die Figuren sind komplex und psychologisiert.
  • Die Figuren sind nicht nur gut oder böse.
  • Kunstmärchen enden oft mehrdeutig und verlieren sich im Unendlichen.
  • Ihr Weltbild kann sehr komplex sein.

Märchenmerkmale in »Der kleine Prinz«

Betrachtet man diese allgemeinen und besonderen Merkmale, lassen sich in der Geschichte von Antoine de Saint-Exupéry viele Merkmale auffinden, die eine Zuordnung zum Genre des Märchens, insbesondere zum Kunstmärchen gestatten:

  • Der Autor ist bekannt: Es ist Antoine de Saint-Exupéry.
  • Es gibt keinen formelhaften Anfang und keinen formelhaften Abschluss.
  • Die Sprache des Autoren ist sowohl einfach als auch poetisch.
  • Die Handlungsorte sind klar umrissen: die Wüste Sahara, der Asteroid B 612, die Erde und die sechs Planeten 325 bis 330, auch wenn es sich um fiktive Handlungsorte handelt. Selbst die gewöhnlichen Aufenthaltsorte des Erzählers, Amerika und Frankreich werden genannt.
  • Die Handlungsorte haben einen symbolischen Charakter.
  • Die Figuren sind komplex: Der kleine Prinz ist rein, doch gibt es Kräfte in ihm, weshalb er zu Schwermut neigt. Er ist sich über seine Gefühle nicht bewusst, was ihn zur Flucht treibt. Der Pilot lebt einsam unter 2 Milliarden Menschen, weil er sich nicht frei unter ihnen entfalten kann. So hat er Wesentliches seines Charakters unter Eigenarten der großen Leute verschüttet.
  • Andere Figuren sind eindimensionale Typen: König, Säufer, Eitler, Laternenanzünder, Geschäftsmann etc.
  • Prinz und Pilot folgen dem Rhythmus von Aufbruch und Wiederkehr: Der kleine Prinz flieht vor seiner Rose und kehrt zu ihr zurück, nachdem er das Geheimnis von Freundschaft, Liebe und Verantwortung kennengelernt hat. Der Pilot strandet in der Wüste und kehrt von dort zurück, nachdem er einen Freund gefunden und seine Kindheit wiederentdeckt hat.
  • Figuren sind haben gute und böse Seiten. Doch Saint-Exupéry fügt ihnen bzw. ihrem Tun noch weitere Kategorien hinzu: die Kategorien von Sinn und Unsinn!
  • Die Handlung endet mehrdeutig und verläuft ins Unendliche. Zwar kehren Prinz und Pilot wieder nach Hause zurück, doch hat das Glück für den Piloten eine Kehrseite. Weil er einen Fehler bei der Zeichnung des Maulkorbs machte, weiß er nicht, ob das Schaf die Rose gefressen hat oder nicht. Das stimmt ihn mal zuversichtlich heiter, mal traurig.
  • Die Tiere sprechen mit dem kleinen Prinzen. Es gibt typische Märchenfiguren: der König, der Fuchs, das Schaf, eine Blume.
  • Dinge, Handlungen und Zahlen haben symbolische Bedeutung.
  • In der Geschichte vermittelt Saint-Exupéry eine Philosophie der Beziehungen der Menschen untereinander und zu sich selbst, in der Liebe, Freundschaft, Verantwortung und Disziplin zentrale Begriffe darstellen. Er vermittelt ein komplexes Weltbild, eine Philosophie.

 

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